8.

 

Was ich gern wüsste, Sarah«, sagte Damon und stellte sein Glas Eistee ab, als sie sich auf seine Veranda setzten. Damon und Sarah verbrachten inzwischen jede Minute, die sie erübrigen konnten, gemeinsam. Sie unternahmen Spaziergänge am Strand. Sie arbeiteten an der Alarmanlage für sein Haus. Träge Tage voller Gelächter und geflüsterter Vertraulichkeiten. Damon kostete jeden einzelnen Moment aus, den er in Sarahs Haus verbrachte, und es machte ihm Spaß, ihre Schwestern besser kennen zu lernen. An Sarahs Seite ging ihm nie der Gesprächsstoff aus und er begeisterte sich für ihre Geschichten und für ihre Aufgeschlossenheit. Sarah hatte Sonnenschein in sein Leben gebracht.

Sie griff in seine Chipstüte und lächelte ihn an. Über ihnen kreisten die Möwen und blickten hoffnungsvoll auf sie hinunter. Damon hatte in der Zwischenzeit keine weiteren Schwierigkeiten mit unerwünschten nächtlichen Besuchern gehabt und wusste es zu schätzen, dass der Sheriff regelmäßig an seinem Haus vorbeifuhr und sich in der Umgebung umsah.

Damon schüttelte den Kopf, denn ihr Lächeln hatte ihn geblendet. Mit diesem Lächeln konnte sie jeden klaren Gedanken verscheuchen. »Sarah, hast du Angst um mich oder um alle anderen? Mir ist aufgefallen, dass sich immer etwas Undurchdringliches zwischen mich und jeden schiebt, dem wir zufällig begegnen. Anfangs habe ich es nicht wirklich bemerkt, aber letzte Nacht habe ich mir Gedanken darüber gemacht. Inzwischen kenne ich dich etwas besser und ich glaube, dir ist es lieber, wenn deine Freunde dich nicht mit mir zusammen sehen.«

Sarahs Atem stockte, denn sie hörte eine Spur von Schmerz aus seiner Stimme heraus. Je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte, desto mehr wünschte sie sich, mit ihm zusammen zu sein. »Mich stört es überhaupt nicht, dass wir zusammen gesehen werden, ganz gleich, von wem. Du bist derjenige, der sich Sorgen macht, wir könnten ins Gerede kommen. Ich bin es gewohnt und mir macht das nichts aus.«

»Dann lass uns zusammen in die Stadt gehen.« Das war eine klare Herausforderung.

Sarah atmete tief aus. Der Frühnebel hatte sich aufgelöst und der Himmel hatte einen ganz erstaunlichen Blauton angenommen. Sie konnte sehen, dass sich weit draußen über dem Meer Wolken zusammenballten. Sarah nahm Damon unauffällig unter die Lupe und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er war von keinem dunklen Schatten umgeben und seine Schultern waren auch nicht so gebeugt, als trüge er eine schwere Last. »Ich finde, das klingt prima, falls du ganz sicher bist, dass du dir das zumuten möchtest.«

Er stand auf und hielt ihr eine Hand hin. »Komm schon.«

»Jetzt gleich?« Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er tatsächlich mit ihr in die Stadt gehen wollte, doch nun nahm sie gehorsam seine Hand und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen.

»Ja. Bevor mich der Mut verlässt. Wenn wir beide uns gemeinsam in der Stadt zeigen, haben die Leute etwas zu reden. Diese Neuigkeit wird sich ausbreiten wie ein Lauffeuer.«

Sarah lachte leise, denn sie wusste, dass es stimmte. Sowie sie den kurzen Fußmarsch zur Stadt zurückgelegt hatten, schlug sie den Weg zum Lebensmittelladen ein, da sie entschlossen war, es hinter sich zu bringen.

»Harrington tut mir schon ein bisschen Leid«, sagte Damon, als er mit Sarah durch die Hauptstraße lief. »Manchmal schaut er bei mir herein und ich finde ihn sehr nett.« Er streckte eine Hand aus und verflocht seine Finger mit ihren.

»Bist du ganz sicher, dass du das willst?« Sarahs Stimme klang skeptisch. »Wenn du in der Öffentlichkeit meine Hand hältst, rückst du ins grelle Scheinwerferlicht. Gerüchte werden die Runde machen, schneller als eine Möwe fliegt. Ich weiß, wie viel dir daran liegt, deine Privatsphäre zu wahren.«

»Das gilt für die Zeit, bevor ich mich zur Ruhe gesetzt habe. Damals habe ich von morgens bis abends, wenn nicht gar bis spät in die Nacht hinein gearbeitet und hatte kein Privatleben.« Damon lachte leise. Er war glücklich. Allein schon ihr Anblick machte ihn glücklich. Spaziergänge mit ihr. Gespräche mit ihr. Es war kaum zu fassen, wie froh er in ihrer Gesellschaft war. Es leuchtete ihm überhaupt nicht ein, aber er dachte im Traum nicht daran, ein Geschenk des Himmels in Frage zu stellen. »Wir könnten ihnen doch gleich einen richtigen Anlass für ihren Klatsch geben.«

Sarahs Gelächter wurde von einer leichten Brise fortgetragen, ein melodischer Klang, der durch die Straßen zog. »Nicht ›Klatsch‹, Damon, sondern ›Neuigkeiten‹. Hier wird grundsätzlich nicht geklatscht. Das musst du wissen.«

Damon lauschte dem Geräusch ihrer Schuhe auf den hölzernen Planken des Gehsteigs. Mit Sarah war alles ganz anders. Er hatte das Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein. Sein Blick fiel auf die pittoresken Häuser in ihrer Umgebung. Hier war alles so malerisch und ganz einmalig. Nichts kam ihm mehr fremdartig oder feindselig vor; die Leute waren verschroben, aber liebenswert. Wie hatte Sarah das geschafft? Die mysteriöse Sarah. Sogar der Wind hatte sie bei ihrer Rückkehr willkommen geheißen. Damons Finger spannten sich fester um ihre und er zog sie näher an sich. Er war nicht ganz sicher, dass Sarah menschlich war, und er fürchtete, sie könnte ihm ohne jede Vorwarnung davonfliegen und sich den Vögeln weit draußen über dem Meer anschließen.

Sie winkte einer jungen Frau zu, die auf einer Veranda stand. »An den Leuten hier ist nichts auszusetzen, Damon. Du wirst in deinem ganzen Leben nirgendwo toleranteren Menschen begegnen als denen, die hier leben.«

»Sogar Harrington?«, fragte er mit leisem Spott.

»Mir tut er auch manchmal leid«, antwortete Sarah ernsthaft. »Die meiste Zeit ist Jonas fürsorglich und mitfühlend und kommt mit allen sehr gut aus. Nur wenn es um Hannah geht, weigert er sich hartnäckig, die Wahrheit zu erkennen. Er schaut sie an und sieht reine Äußerlichkeiten. Sie war schon immer wunderschön. Er war in der Schule bei den Mädchen sehr beliebt, ein grandioser Sportler, der außerdem noch jede Menge Stipendien gewonnen hat, für die meisten Einheimischen der Schwarm in greifbarer Nähe. Er hat Hannah für hochnäsig gehalten, weil sie nie mit ihm geredet hat. Während unserer gesamten Schulzeit hat er ihr das Leben mit seinem unbarmherzigen Spott zur Hölle gemacht. Das hat sie ihm nie verziehen und er wird es nie begreifen. Er ist ein anständiger Kerl und er war auch in der Schule nicht boshaft oder gemein. Aus seiner Sicht hat er sie nur geneckt, sonst gar nichts. Er ahnt nicht, dass Hannah furchtbar schüchtern ist, und er wird es wohl auch nie kapieren.«

Damon schien keineswegs davon überzeugt zu sein. »Sie ist ein Supermodel, Sarah. Sie prangt auf den Titelblättern sämtlicher Zeitschriften. Sie reist um die ganze Welt. Und ich muss sagen, in jeder Fernsehsendung, in der ich sie je gesehen habe, ganz gleich, ob es sich um ein Interview oder um eine Talkshow handelt, wirkt sie ausgesprochen selbstbewusst. Ich brächte sie niemals mit dem Wort ›schüchtern‹ in Verbindung.«

»Sie hyperventiliert vor jedem öffentlichen Auftritt. Sie trägt tatsächlich immer eine Papiertüte mit sich herum. Die meisten Moderatoren und Interviewer gehen behutsam mit ihr um. Ihre Schüchternheit quält sie, aber das heißt noch lange nicht, dass sie ihr ganzes Leben davon beeinträchtigen lässt.«

»Und warum gebt ihr Harrington nicht einfach einen Tipp?«

»Wie kommt er dazu, Hannah bloß wegen ihres Aussehens so streng zu verurteilen? Meine Schwester Joley ist ebenfalls eine umwerfende Schönheit, wenn auch nicht auf dieselbe Weise wie Hannah. Jonas würde es jedoch niemals wagen, sie zu quälen. All meine Schwestern sehen gut aus, aber er schlägt gegenüber keiner von ihnen diesen sarkastischen Tonfall an. Das tut er nur bei Hannah und am liebsten vor großem Publikum.«

Jetzt hörte Damon ihn wieder, den Tonfall der todesmutigen Beschützerin. Er lächelte und zog Sarah unter seiner breiten Schulter näher an sich. Seine Sarah. Ohne jede Vorwarnung schlug die Furcht zu und traf ihn, tief und schmerzhaft und so scharf wie ein Messer. Es verschlug ihm den Atem. »Sarah? Empfinden wir dasselbe füreinander? Ich wollte noch nie jemanden in meinem Leben haben. Nicht ein einziges Mal. Dich habe ich gerade erst kennengelernt und schon jetzt kann ich mir den Rest meines Lebens nicht mehr ohne dich vorstellen.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und hätte sich dabei fast seinen Stock auf den Kopf geschlagen. »Weißt du, wie das in meinen eigenen Ohren klingt? Wie die Worte eines Mannes, der von einer fremden Frau besessen ist und ihr auf Schritt und Tritt folgt. Dieses Verhalten gegenüber Frauen kenne ich nicht an mir, Sarah.«

Ihre Augen funkelten fröhlich. »Damit gibst du dir zu viele Blößen, Damon. Du hast es hier mit einer großen Familie zu tun. Sechs Schwestern und zahllosen Cousinen. Ich habe Unmengen von Tanten und Onkeln. Wenn du dich nicht besser vorsiehst, werden sie dich gnadenlos aufziehen.«

Sie blieben vor dem Lebensmittelladen stehen. Damon drehte sich zu Sarah um, legte seine Hand unter ihr Kinn und bog ihr Gesicht nach oben. »Es ist mein Ernst, Sarah. Ich weiß ganz genau, dass ich mir eine Zukunft mit dir wünsche. Ich muss wissen, dass wir am selben Strang ziehen.«

Sarah zog sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. »Nur zu deiner Information, Damon: Ich gefährde meine Aufträge nicht, indem ich mich mit meinen Klienten einlasse. Und ich küsse grundsätzlich keine Fremden und hoffe die ganze Nacht, dass sie endlich zur Sache kommen.«

»Du willst, dass ich bei dir zur Sache komme?«

Sarah lachte, zog an seiner Hand und zerrte ihn hinter sich her in den Laden. »Natürlich will ich das.«

»Einen schlechteren Zeitpunkt hättest du dir wohl nicht aussuchen können, um mir das zu sagen!«

Inez stand mit drei ihrer Kundinnen am Schaufenster. Sie starrten Sarah und Damon mit weit aufgerissenen Mündern an. Damon sah die Frauen finster an. »Braucht man um diese Jahreszeit nur den Mund aufzusperren, damit die Mücken hineinfliegen?«

Sarah drückte seine Hand, um ihn zu warnen. Das strahlende Lächeln schwand keinen Moment lang von ihrem Gesicht. »Inez! Wir wollten nur schnell bei Ihnen reinschauen. Kate und Hannah und Abigail sind für ein paar Tage in der Stadt und können es kaum erwarten, Sie zu sehen. Joley und Elle und Libby lassen Sie grüßen und haben mich beauftragt, Ihnen auszurichten, dass sie hoffen, auch bald wieder herzukommen.« Ihre Stimme war fröhlich und munter und zerstreute die bedrückte Stimmung im Laden. »Damon kennen Sie ja schon.«

Inez nickte und ihre Adleraugen kniffen sich schockiert zusammen, als sie sah, dass die beiden einander an der Hand hielten. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und ab. »Ja, natürlich kenne ich ihn. Ich wusste nur nicht, dass ihr beide so intim miteinander seid.«

Damon sah die Frau finster an. Sein Blick besagte deutlich, sie solle sich unterstehen, weitere Anspielungen zu machen. Sarah lachte schlicht und einfach. »Ich habe ihn mir geangelt, sowie ich ihn gesehen habe, Inez. Sie haben mir doch schon immer gesagt, ich sollte mit einem anständigen Mann einen Hausstand gründen und ... also, hier haben Sie ihn.«

»Darauf wäre ich nie gekommen und Mr. Wilder hat auch kein Wort gesagt«, sagte Inez beleidigt.

Sarah drückte seine Hand unauffällig fester, und als sich ihre Nägel in seine Handfläche gruben, rang sich Damon ein Lächeln ab. »Nennen Sie mich Damon, Inez. Es ist mir nie gelungen, Sie allein zu erwischen.« Das war die beste Ausrede, die ihm einfiel, und sie klang immerhin plausibel. Es sah auch so aus, als hätte seine Behauptung ihren Zweck erfüllt, denn Inez strahlte ihn an und schenkte ihm ein Lächeln von der Sorte, die ihren engsten Freunden vorbehalten war. Zu seiner eigenen Verwunderung spürte Damon, dass es ihn freute, von ihr akzeptiert zu werden.

»Was hat sich in der letzten Zeit hier getan?«, fragte Sarah, bevor Damon sie warnen konnte. Wenn Inez erst einmal loslegte, war sie nicht mehr zu bremsen.

»Also wirklich, Sarah, Donna, die den Geschenkartikelladen gegenüber hat, ist eine ganz reizende Person, aber ihr ist einfach nicht begreiflich zu machen, wie wichtig Recycling ist. Gerade erst heute Morgen habe ich gesehen, wie sie ihre Zeitungen zusammen mit dem Plastikmüll weggeworfen hat. Ich habe den Müll schon oft für sie sortiert und ihr gezeigt, wie sich das am einfachsten machen lässt, aber sie  kapiert es einfach nicht. Sei so lieb und unternimm etwas, ja, meine Liebe?«

Damons Kiefer wäre fast heruntergefallen, als er diese Bitte hörte. Was erwartete Inez von Sarah? Doch nicht etwa, dass sie die Abfälle der Frau sortierte?

»Kein Problem, Inez. Ich gehe gleich zu ihr rüber. Damon und ich hatten gehofft, einige unserer Freunde würden uns bei einem kleinen Problem behilflich sein. Es sind Fremde in der Stadt, wahrscheinlich schon seit ein oder zwei Wochen. Drei Männer. Wir brächten gern in Erfahrung, wo sie sich einquartiert haben, wo sie sich herumtreiben und dergleichen. Leider können wir sie nicht näher beschreiben, aber einer von ihnen hat eine Verletzung im Gesicht, voraussichtlich einen gebrochenen Kiefer. Ich hoffe, einer der anderen könnte von einer Zecke gebissen worden sein.« Sie unterbrach sich und ein heimtückisches kleines Lächeln zog an ihren Mundwinkeln. »Vielleicht sogar von vielen Zecken.«

»Was haben die Männer angestellt?«, fragte Inez und senkte ihre Stimme, als hätte sie sich einer Verschwörung angeschlossen.

»Sie haben versucht, in Damons Haus einzubrechen. Jonas hat alle Informationen, die wir ihm geben konnten. Er wollte sich im Krankenhaus und bei den Ärzten umhören.« Sie hatte ihm auch das Luftgewehr mit den Betäubungspfeilen überlassen. »Falls jemand diese Männer zufällig entdecken oder sie Ihnen gegenüber erwähnen sollte, dann macht es Ihnen doch gewiss nichts aus, mich anzurufen? Und vielleicht wäre es das Beste, Jonas auch gleich zu benachrichtigen.«

»Tja, meine Liebe, du weißt ja, dass ich nichts davon halte, meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, aber wenn ihr wirklich Hilfe braucht, dann werde ich mit dem größten Vergnügen tun, was ich kann«, sagte Inez. »Hier treiben sich immer so viele Touristen herum, aber einen Mann, mit dessen Kiefer etwas nicht stimmt, werden wir wohl gerade noch finden.«

Sarah beugte sich vor, um Inez einen Kuss zu geben. »Sie sind eine so gute Freundin, Inez. Ich weiß nicht, was wir alle ohne Sie täten.« Sie drehte sich zu den drei Kundinnen um und sah sie an. »Irene, ich wollte heute Nachmittag bei Ihnen vorbeikommen und nach Drew sehen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Damon mitbringe?« Sie wollte sich ein klares Bild von Drews Verfassung machen, bevor sie gemeinsam mit ihren Schwestern anrückte und Irenes Hoffnungen weckte. »Wir wollen ihn nur für ein paar Minuten besuchen«, fügte sie hastig hinzu. »Wir werden ihn nicht ermüden.«

Irenes Miene hellte sich gewaltig auf. »Danke, Sarah. Natürlich können Sie mitbringen, wen Sie wollen. Ich habe Drew schon erzählt, dass Sie vielleicht mal nach ihm sehen. Er war richtig aufgeregt. Es wird ihn freuen, Gesellschaft zu haben. Selbst seine Freunde sieht er kaum noch.«

»Ich kann es kaum erwarten, ihn zu sehen. Aber machen Sie sich bloß keine Mühe, Irene. Als ich das letzte Mal zu Besuch gekommen bin, haben Sie ein ganzes Buffet aufgefahren.« Sarah rieb Damons Arm. »Irene ist eine wunderbare Köchin.«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte Inez bereitwillig zu. »Ihre Backwaren sind bei jeder Wohltätigkeitsveranstaltung als Erstes ausverkauft.«

Irene wirkte erfreut. Sie lächelte strahlend.

Damon war es warm ums Herz geworden. Jetzt strömte diese Wärme in seinen Bauch und erhitzte sein Blut. Sarah verbreitete Sonnenschein um sich herum. Darin musste ihr Geheimnis bestehen. Ihr schlugen, wohin sie auch ging, allseits wohlwollende Reaktionen von anderen entgegen, weil sie sich wirklich etwas aus ihren Mitmenschen machte. Sie war weitaus mehr als nur tolerant, denn sie mochte ihre Nachbarn mit all ihren kleinen Eigenheiten tatsächlich. Er konnte nichts dafür, dass sich Stolz in ihm regte. Womit hatte er dieses Glück verdient?

Damon setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase, als sie über die Straße schlenderten. Er sah, dass sie auf den farbenfrohen Geschenkartikelladen zugingen. »Willst du tatsächlich jemandem den Müll sortieren, Sarah?«

»Nein, natürlich nicht, ich schaue nur kurz rein, um hallo zu sagen. Vielleicht kaufen deine Verfolger ja ein Souvenir, das sie an den Aufenthalt hier erinnert. Oder möglicherweise sogar ein Geschenk für jemanden, das kann man nie wissen. Daher sichern wir uns am besten nach allen Seiten ab«, erwiderte Sarah unbekümmert.

Damon lachte. »Sarah, meine Süße, ich glaube kaum, dass Entführer sich die Zeit nehmen, ein Souvenir zu erwerben. Ich könnte mich irren, aber mir kommt das eher unwahrscheinlich vor.«

Sarah strahlte ihn an und ihr Lächeln verschlug ihm den Atem. Er wünschte, er hätte sie schon immer gekannt, sie schon viel eher in seinem Leben und an seiner Seite gehabt. In all den Jahren, in denen er nur gearbeitet und nie an etwas anderes gedacht hatte, war Sarah irgendwo gewesen. Wenn er ihr eher begegnet wäre, hätte er sich möglicherweise früher zur Ruhe gesetzt und ...

»Machst du dir überhaupt eine Vorstellung davon, wie unglaublich verführerisch dein Mund ist, Damon?«, riss ihn Sarah aus seinen Gedanken heraus. Ihre Stimme klang sachlich und nüchtern und doch ungemein interessiert.

»Sarah! Sarah Drake! Juhu!« Eine große Frau mit ungewöhnlich schöner Haut und den Proportionen einer Amazone winkte wie verrückt, um sie abzufangen. Ein älterer Mann, offenbar ihr Vater, und ein Teenager folgten ihr mit weitaus gemäßigteren Schritten.

Die Wolken, die noch vor wenigen Minuten so weit weg gewesen waren, ballten sich unheilverkündend über dem Meer zusammen und zogen mit großer Geschwindigkeit an Land. Der Wind heulte. Er wehte kräftig vom Meer her und trug etwas Finsteres und Gefährliches mit sich. Eisige Finger berührten Sarahs Gesicht. Die Berührung erschien ihr beinah wie eine begeisterte Liebkosung ... oder wie eine Provokation. Sie beobachtete Damons Gesicht und seinen Körper, als er die Last willig auf sich nahm. Seine Schultern neigten sich und um seinen Mund herum bildeten sich kleine Falten. Er schien es gar nicht bewusst wahrzunehmen, da ihm sein grimmiger Begleiter schon viel zu vertraut war.

Sie rückte näher zu Damon, um ihn instinktiv zu beschützen, als der Mann und der Junge der Frau folgten und näher kamen. Das Lächeln zur Begrüßung verblasste auf Sarahs Gesicht. Ein Schatten fiel auf den Bürgersteig und schlängelte sich heran, ein großes, dunkles Netz, das zum Fang ausgeworfen worden war. »Patsy, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen.« Aber ihr Blick war auf den älteren Mann gerichtet. »Mr. Granger. Wie schön, Sie wieder zu sehen. Und auch dich, Pete. Es freut mich sehr, dass wir einander begegnet sind. Ich schaue demnächst mal bei Drew rein. Dann kann ich ihm sagen, dass ich dich gesehen habe. Ich wette, er freut sich, wenn er etwas von dir hört.«

Pete Granger scharrte mit seiner Stiefelspitze auf dem Gehsteig. »Ich sollte ihn selbst mal besuchen. Es ist schon eine ganze Weile her. Ich wusste einfach nicht, was ich zu ihm sagen soll.«

Sarah legte ihm eine Hand auf die Schulter. Damon konnte ihr ansehen, dass sie besorgt war. »Du wirst ganz von selbst die richtigen Worte finden. Genau darum dreht sich Freundschaft doch, Pete - dass man in guten und in schlechten Zeiten für jemanden da ist. In den guten Zeiten ist das einfach und in den schlechten, nun ja«, sagte sie und zuckte die Achseln, »da ist es eben etwas schwieriger. Aber du bist schon immer unglaublich zäh gewesen und du bist Drews bester Freund. Ich weiß, dass du für ihn da sein wirst.«

Pete nickte. »Sagen Sie ihm, dass ich heute Abend zu ihm komme.«

Sarah lächelte beifällig. »Ich finde, das ist eine sehr gute Idee, Pete.« Sie berührte den älteren Granger mit behutsamen Fingerspitzen. »Was ist bei Ihrem Besuch beim Kardiologen herausgekommen?«

»Was soll das heißen, Sarah?«, antwortete Patsy, »Dad hat doch gar keinen Kardiologen. Er hat nichts am Herzen.«

»Ach wirklich? Es kann nie schaden, auf Nummer sicher zu gehen, Mr. Granger. Vorsorgeuntersuchungen sind immer so lästig, aber sie sind von größter Notwendigkeit. Patsy, erinnerst du dich noch an diesen Kardiologen, bei dem meine Mutter war, als wir im ersten Studienjahr waren? In San Francisco?«

Patsy und ihr Vater tauschten einen langen Blick miteinander aus. »Ja, ich kann mich noch an ihn erinnern, Sarah. Vielleicht lässt es sich im nächsten Monat einschieben, wenn es im Geschäft wieder ruhiger zugeht.«

»Es ist immer besser, wenn man solche Dinge gleich in Angriff nimmt und sie gar nicht erst auf die lange Bank schiebt«, beharrte Sarah. »Das ist Damon Wilder, ein Freund von mir. Seid ihr ihm schon begegnet?«

Damon war schlichtweg erstaunt. Pete würde seinen todkranken Freund besuchen und Mr. Granger würde zu einem Kardiologen gehen. Und all das nur, weil Sarah es vorgeschlagen hatte. Er sah sich den älteren Mann genauer an. Er hatte nicht den Eindruck, dass Granger krank wirkte. Was hatte Sarah gesehen, und er nicht? Für ihn bestand kein Zweifel an dem Befund des Kardiologen. Er würde Mr. Granger sagen, dass mit seinem Herzen etwas nicht in Ordnung war.

Sarah bat alle drei, die Augen nach Fremden mit  Gesichtsverletzungen offen zu halten, und sie versprachen es ihr, bevor sie eilig weiterliefen.

»Wie stellst du das an?«, fragte Damon fasziniert. Sie tat etwas und sie wusste Dinge, die sie eigentlich nicht hätte wissen dürfen.

»Was denn?«, fragte Sarah. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

Damon blieb mitten auf der Straße im hellen Sonnenschein stehen und betrachtete ihr Gesicht. Er konnte den Blick nicht von ihr losreißen und er war machtlos gegen sein Verlangen. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie echt war, dass es sie wirklich gab. »Du siehst etwas, was sich dem menschlichen Auge entzieht, Sarah, etwas, was die Wissenschaft nicht erklären kann. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Wissenschaft, und doch kann ich für das, was du tust, keine Erklärung finden.«

In Damons Gesicht drückte sich unmaskiertes Verlangen aus. Als sie das sah, schmolz Sarahs Herz augenblicklich dahin und ihr Körper ging in Flammen auf. »Das ist das Erbe der Drakes. Eine Gabe.« Ihr war vollständig entfallen, wohin sie gerade wollten. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an Damon und das Verlangen, das sie ihm ansah, die Gier in seinen Augen. Ihre Finger gruben sich in seine Hemdbrust, obwohl sie gerade vor dem Schaufenster des Geschenkartikelladens standen, deutlich sichtbar für alle Einwohner des Städtchens, die sich für sie interessierten.

»In der Prophezeiung, die sich auf das Tor bezieht, haben unsere Ahninnen vergessen, die Intensität der körperlichen Anziehungskraft zu erwähnen«, murmelte sie.

In ihren Augen konnte ein Mann ertrinken und sich für alle Zeiten verlieren. Damons Hände umfassten sie besitzergreifend. Er zog sie enger an sich, bis sie an seinen Körper gepresst war. Jede Zelle reagierte augenblicklich. Kleine Blitze zuckten durch sein Blut und Flammen züngelten knisternd über seine Haut. Dazu reichte allein schon die Berührung ihres vollständig bekleideten Körpers aus. Was würde erst passieren, wenn sie nackt war und restlos entblößt unter ihm lag? »Es kann sein, dass ich das nicht überlebe«, flüsterte er.

»Würde uns das etwa davon abhalten?«, fragte Sarah. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm losreißen und sah ihm weiterhin gebannt in die Augen. Sie wollte ihn. Sie verzehrte sich nach ihm. Sie wollte dringend mit ihm allein sein, ganz gleich, wo, Hauptsache, sie waren allein miteinander.

»So darfst du mich nicht ansehen«, sagte Damon. »Ich gehe in Flammen auf und ich bin viel zu alt, um mich zu benehmen wie ein Teenager.«

»Nein, das bist du eben nicht«, widersprach ihm Sarah. »Tu das ruhig, mich stört es überhaupt nicht.« Sie wandte den Blick zur Straße um, ohne sich aus seinen Armen zu lösen. »Ich glaube, Inez fällt jeden Moment aus dem Fenster. Die Arme, sie wird zwangsläufig ihr Augenlicht verlieren, wenn sie so weitermacht. Ich hätte ihr vorschlagen sollen, dass sie sich eine neue Brille kauft. Ich werde Abbey sagen, dass sie es ihr sagen soll. Bei Inez muss man vorsichtig sein, sie ist so empfindlich.«

Sarah sagte das mit einer Aufrichtigkeit, die ihm das Herz zerriss. »Ich konnte nie mit Menschen umgehen. Zu keiner Zeit meines Lebens. Noch nicht mal im College. Sie sind mir immer alle auf die Nerven gegangen. Bücher und mein Labor waren mir lieber als Gespräche mit meinen Mitmenschen«, gestand er, weil er ihr begreiflich machen wollte, wie sehr sie ihn schon jetzt verändert hatte. Er begann tatsächlich, sich etwas aus Inez zu machen, und das war schlichtweg erschreckend. Er fand die Einwohner des Städtchens interessant, nachdem er sie mit Sarahs Augen gesehen hatte.

»Lass uns zu mir nach Hause gehen«, schlug er vor. »Hast du nicht gesagt, diese Alarmanlage, die du bei mir installiert hast, könnte Macken haben?«

»Ich bin ganz sicher, dass ich sie noch einmal überprüfen muss«, stimmte Sarah ihm zu, »aber vorher muss ich erst noch diesen einen Besuch machen. Ich habe es Inez versprochen.«

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